Während der deutschen Besatzung Mykolajiws zwischen 1941 und 1944 saßen ihre Großmutter und Mutter im Keller des Hauses von Angelina Schardt. Nie hätte sie gedacht, dass sie achtzig Jahre später deren Schicksal teilen muss. Wie die Präsidentin der Assoziation der Deutschen der Ukraine die ersten Monate seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erlebt hat und warum sie nach einigen Wochen im Ausland zurückkehren möchte in ihre Heimatstadt an der ukrainischen Schwarzmeerküste, darüber sprach sie am 10. September 2022.
Wie hat Ihr Leben vor dem Krieg ausgesehen?
Vor dem Krieg habe ich trotz meiner 69 Jahre ein sehr aktives Leben geführt, das in den vergangenen 25 Jahren praktisch der deutschen Minderheit in der Ukraine gewidmet war. Ich habe viel mit Künstlern gearbeitet und war 17 Jahre lang Organisatorin und Leiterin des Projekts „Treffen der Generationen“ für deutschstämmige Künstlerinnen und Künstler in der Ukraine. Auch habe ich 74 Bildungs- und Rehabilitationsveranstaltungen für ältere Deutschstämmige durchgeführt. All die Jahre habe ich mich auch bei sozialen Projekten engagiert. Gerade in den letzten Jahren sind unsere Projekte mit Künstlern in der gesamten Ukraine auf Resonanz gestoßen. Ich habe Workshops für Dichter, Schriftsteller und Künstler geleitet. Seit 2004 führe ich Seminare zum Management im sozialen Bereich für gemeinnützige Organisationen im Rahmen des BIZ-Programms durch, ich leite auch das Projekt „Schule des dritten Alters“ bei deutschen NGOs. Ich habe viele Ausstellungen in der Ukraine sowie in Deutschland und Litauen organisiert und an Konferenzen teilgenommen.
Bis kurz vor Ausbruch des Krieges waren Sie noch in der Türkei bei Ihrer Tochter, warum sind Sie nicht dort geblieben?
Nachdem ich im Januar die Buchhaltung für unser deutsches Informationszentrum in Mykolajiw abgeschlossen hatte, bin ich zu meiner Tochter Iryna in die Türkei geflogen. Am 20. Februar war ich in die Ukraine zurückgekehrt. Meine Tochter flehte mich noch unter Tränen an, nicht zu fliegen. Doch ich konnte mir bei besten Willen zu diesem Zeitpunkt nicht das vorstellen, was vier Tage später passierte. Ich werde nächstes Jahr 70, bin also in der Nachkriegszeit aufgewachsen, habe später das Tauwetter und die 1980er und 1990er erlebt. In all dieser Zeit gab es viele schwierige Phasen wie die des Kalten Krieges. Und trotzdem konnte ich mir auch noch am 20. Februar nicht vorstellen, dass es einen Krieg mit Russland geben wird.
Wie haben Sie den 24. Februar 2022 erlebt?
Mykolajiw ist umgeben von verschiedenen Truppenübungsplätzen wie zum Beispiel in der Siedlung, die früher deutsch war und Landau hieß. Wenn es also irgendwo Schüsse oder kleine Explosionen zu hören gab, war das nichts Besonderes. 300 Meter von meinem Haus entfernt befindet sich zudem ein Krankenhaus. So bin ich auch Sirenengeheul in der Nachbarschaft gewöhnt. Ich wunderte mich also nicht über eine derartige Geräuschkulisse an dem Morgen des 24. Februars. Um neun Uhr hatte ich einen Termin bei meiner Frisörin und war gerade dabei, mich auf den Weg zu machen, als das Telefon klingelte. Eine Kollegin aus Kropywnyzkyj rief an, sie sagte: Angelina, es ist Krieg. Dieses Wort Krieg zu hören, und zwar nicht in irgendeinem historischen oder künstlerischen Kontext – das war ein Schock! Und plötzlich hörte ich Explosionen nicht weit von meinem Haus, denn ich wohne im Zentrum.
Bis Ende April sind Sie dann in Mykolajiw geblieben. Wie haben Sie diese Wochen, in denen Sie oft im Keller Ihres Geburtshauses ausharren mussten, verlebt?
Das Haus, in dem ich lebe, hat mein Urgroßvater 1912 gebaut. Das bedeutet, dass meine Mutter und Großmutter in eben diesem Keller zwischen 1941 und 1944, als Mykolajiw von den Nazis okkupiert war, gesessen und sich vor Angriffen versteckt hatten. Kann man sich das vorstellen, wie sich das anfühlt? Dein Leben lang haben sie uns erzählt, wie sie sich in diesem Keller versteckt hatten und plötzlich befindest du dich in ebensolcher Situation. Mein Keller ist kein richtiger Luftschutzkeller, versteht sich. Wir saßen da also nun regelmäßig zu viert drin. Mein Cousin, seine Frau, ein Nachbar und ich. Als eine Rakete auf unser Verwaltungsgebäude flog, stand ich gerade am Fenster und sah etwas am Himmel vorbeirauschen. Nicht die Rakete selbst, sondern eine Art Schweif. Direkt darauf war die Explosion ganz in der Nähe zu hören. Das ist natürlich schrecklich.
Wann haben Sie Mykolajiw verlassen?
Das war Ende April, mit einem kleinen Bus, für den meine Tochter mir eine Mitfahrt ab Odessa organisiert hatte. Ich hatte tatsächlich gleich zu Beginn des Krieges eine Notfalltasche gepackt. Als ich später in diese reinschaute, musste ich feststellen, dass nur ein Geisteskranker so hatte packen können. Ich sagte also: Lasst mich in Ruhe packen. Aber wie packst du in so einer Situation? Wie denn? Früher und bis heute organisiere ich Ausstellungen mit Archivdokumenten meiner Familie, Ausstellungen dekorativer und angewandter Kunst sowie Ausstellungen von Werken deutschstämmiger Künstler aus der Ukraine. Alle Arbeiten befinden sich bei mir zu Hause, da wir keinen anderen Aufbewahrungsort gefunden hatten. Ich lief also durchs Haus und fragte mich: Was soll ich in den Koffer legen? Du packst also und du weißt nicht, kommst du wieder oder nicht. Und man muss ja fünf Grenzen überqueren, die moldauische, rumänische, bulgarische, ungarische und die zur Türkei.
Was haben Sie schließlich in Ihren Koffer gelegt?
Ich packte eine sächsische Porzellantasse, einen antiken Eierbecher, einen vergoldeten Silberlöffel mit schwarzer Emaille, der meiner Ururgroßmutter gehört hatte, ein Buch meines Ururgroßvaters und einen unvollendeten Teppich ein. Dies war der fünfte Teppich, den meine Mutter 1995 begonnen hatte, und jetzt muss ich ihre Arbeit beenden. Natürlich packte ich auch Kleider, Dokumente und ein gesticktes Bild meiner Mutter aus den 1950er Jahren.
Hatten Sie keine Probleme an den Grenzen?
Zunächst musste ich überhaupt an die Grenze kommen. Es war bis sechs Uhr morgens immer Ausgangssperre, immer wieder hatte sich die Fahrt aus Mykolajiw nach Odesa verschoben, alles war recht chaotisch. Als es dann endlich klappt, konnte ich nur durch Zufall den Bus, der mich und andere in die Türkei bringen sollte, kurz hinter Odesa in Richtung moldauischer Grenze einholen. Der Fahrer hatte vierzig Minuten auf mich gewartet. Ich muss blass wie eine Leiche ausgesehen haben, als ich da ankam. Die anderen Mitfahrer meinten später zu mir, sie hatten Angst, einen Krankenwagen rufen zu müssen. Der Kleinbus war bis zur Decke voll mit Taschen. Das übrige Gepäck verteilte sich bei uns auf dem Schoß. Wir erreichten die moldauische Grenze. Da setzte man uns raus und jeder musste seine Sachen selbst tragen. Ich hatte einen Koffer, einen Rucksack, meinen Computer und eine kleine Tasche. Beim Zoll hieß es dann: Wir machen jetzt die Koffer auf und werden alles durchsuchen. Ich dachte, es wäre schade, meine Sachen hier zu lassen. Als ich den Koffer aufgemacht habe, fragte der Zollbeamte: Ist Ihnen schlecht? Ich musste sehr mitgenommen ausgesehen haben und erklärte ihm, dass ich aus Mykolajiw komme. Man wusste, dass die Stadt angegriffen worden war. Er öffnete den Koffer und sah das gestickte Bild und drunter den Teppich. Er fragt: Was ist das? Ich erklärte es ihm. Er schloss wortlos den Koffer und trug ihn zurück bis zum Bus. Wir fuhren dann weiter, zwei Busse mit jeweils sieben Menschen darin. Wir bekamen Kaffee und Wasser. Ich verstehe, dass das alles im Preis mitinbegriffen war. Die Fahrer kannten die Route. So hatte ich es bis in die Türkei geschafft.
Sie sind jedoch nicht in der Türkei geblieben – wie verlief der Sommer?
Ich war zunächst 90 Tage bei meiner Tochter und anschließend bei einer Freundin in Litauen. Ich war völlig beeindruckt von der Solidarität der Litauer. An jeder Ecke hingen ukrainische Flaggen oder Plakate und kleine Schilder mit „Slava Ukraini, Gerojam Slava“. Ich war in der Vergangenheit dort oft beruflich wegen sozialer und kultureller Projekte. Auch dieses Mal hatte man mich mit viel Wärme empfangen und mir sogar eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für Litauen gegeben. Jetzt bin ich wieder in der Türkei, kehre aber zurück, um im Oktober Ausstellungen in verschiedenen Städten im Westen der Ukraine zu organisieren. Es werden alles Foto- und Kunstausstellungen sein zum Thema „Deutsche Spuren in der Ukraine“. Ich hoffe, die geplanten Projekte für 2022 durchführen zu können.
Möchten Sie auch nach Mykolajiw zurückkehren?
Ja, ich werde im Oktober nach Mykolajiw zurückfahren. Mein Haus steht noch, eine Freundin von mir hat in der Zwischenzeit dort gelebt. Meine Seele ist dort und mein Herz. Um sie mache ich mir große Sorgen. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich kehre für immer zurück. Aber seit dem Krieg gibt es keine Gewissheiten mehr. Es hängt auch von ganz alltäglichen Dingen ab, ob ich in meiner Heimatstadt bleiben kann. Wird es Gas geben und Wasser zum Beispiel? Solange Cherson nicht befreit ist, wird es kein Trinkwasser von dort bei uns geben. Unser Wasser aus der Leitung ist salzig, damit kannst du nicht kochen. Trinkwasser wird jetzt aus Odesa angefahren. Man kann es in Geschäften kaufen. Doch alte Menschen können das nicht tragen.
Was gibt Ihnen in dieser Situation Kraft?
Ich verstehe, dass viele Menschen in der Ukraine müde geworden sind. Viele haben ihre Häuser und Wohnungen verloren, manche Familienangehörige, die meisten sind ohne Geld. In so einer Situation denkt kaum einer an Kultur. Und doch wünsche ich mir, dass wir unsere Arbeit zur Kultur und Geschichte der Deutschen in der Ukraine fortsetzen können. Natürlich wird unser Leben nicht mehr wie es war, aber es wird trotzdem weitergehen. Es ist ja auch für unsere Vorfahren weitergegangen, die die Deportation überlebt haben. Ich denke viel an meine Großmütter. Unter Stalin wurden ihnen die Männer weggenommen wie mein deutscher Großvater Jakob Schardt im Jahr 1937. Meine ukrainisch-russische Großmutter ist regelmäßig zu ihm nach Sibirien gefahren, obwohl das sehr gefährlich und mühsam war. Es war eine große Liebe. Das und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatte ihnen immer Kraft gegeben. Meine Großmütter blieben trotz des Krieges, Hunger und dem Verlust von Angehörigen immer positiv. Ich finde es wichtig, bei allem, was passiert, das Gute nicht aus dem Blick zu verlieren und die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Und ich glaube, Kunst kann uns dabei helfen. Meine Mutter war zum Beispiel Musikerin. Nach dem Krieg fuhr sie mit anderen Künstlern von Dorf zu Dorf und gab vor Arbeitern mitten auf dem Feld Konzerte. So brachten sie etwas Licht in eine dunkle Zeit. Und so will ich auch aktuell mit meinen Ausstellungen und Projekten weitermachen. Der Mensch muss sich immer weiterbilden und -entwickeln. Und er muss an das Gute glauben. Wenn wir nicht an das Gute glauben, werden wir in dem Schlechten bleiben.
Anfang Oktober ist Angelina Schardt zurückgekehrt in ihre Heimatstadt Mykolajiw. Innerhalb einer Woche hat sie die wichtigsten Gemälde und Werke der dekorativen und angewandten Kunst, die sich in ihrem Haus befunden hatten, in den Westen des Landes gebracht. Direkt im Anschluss stellte sich einige der Werke in Mukaschewo (s. Link) aus. Als Nächstes plant sie ein Treffen für bildende Künstler.