Die Geschichte einer deutschstämmigen Familie, die vor dem Krieg fliehen musste

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Die Geschichte einer deutschstämmigen Familie, die vor dem Krieg fliehen musste

In den ersten drei Kriegsmonaten unterstützte der Rat der Deutschen der Ukraine in enger Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten (AGDM) mehr als 200 Familien von den Angehörigen der deutschen Minderheit, die das ukrainische Staatsgebiet verlassen mussten und versuchten, auf der Grundlage eines Härtefallverfahrens ein Spätaussiedlerstatus in Deutschland zu erlangen. Auf dem Weg dorthin wurden sie von den deutschen Selbstorganisationen Osteuropas und der Koordinierungsstelle der AGDM nach Kräften unterstützt.

Mein Weg

Jeder Angehörige der deutschen Minderheit hat im Leben die Auswahl: in der Ukraine zu bleiben (vertraut, geliebt und sicher bis zu einem gewissen Punkt) oder in Deutschland ganz neu anzufangen.

Der Verlust meines Mannes vor drei Jahren war für mich der entscheidende Anstoß, die Unterlagen für ein Spätaussiedlerprogramm zu sammeln und zu beantragen. Ich musste nach neuen Zielen und anderen Lebenswegen suchen. Und ich habe nach ihnen gesucht. Das innere Gefühl einer Hand, die mich auf diesem Weg begleitet, hat mich die ganze Zeit nicht verlassen. Die Archive bewahrten genau die Urkunden auf, die benötigt wurden. Nicht mehr und nicht weniger.

Die Unterstützung des Deutschen Kulturzentrums "Wiederstral" in Tscherkassy, dessen Vertreter auch Mitglieder des Rates der Deutschen in der Ukraine sind, erwies sich in dieser Zeit als unverzichtbar, vor allem in emotionaler Hinsicht. Das auffälligste Merkmal dieser Gemeinschaft ist ihre Freundlichkeit. Wir sind immer noch jeden Tag in Kontakt und bleiben Patrioten der Ukraine mit deutscher Nationalität.

Als die russische Invasion in der Ukraine begann, stand jeder vor der Frage: Was ist zu tun? In meinem Fall war es eine schnelle und schwierige Entscheidung: weggehen. Über Nacht haben mein Sohn und ich unser Leben in einen Koffer und einen Rucksack gepackt. In der Erwartung, dass der Koffer vielleicht mitten auf der Fahrt aufgegeben werden muss. Aber der Rucksack - niemals!

Nur eines war sicher: In den ersten Kriegstagen hatte die deutsche Bundesregierung für die Spätaussiedler aus der Ukraine, die eine Reihe von Voraussetzungen erfüllten, nicht auf eine besondere Einladung warten mussten, sondern direkt nach Friedland kommen konnten - 
Härtefallverfahren.

Die Bearbeitung der Unterlagen, die zweiwöchige Quarantäne, die Befragungen, der Nachweis von Sprachkenntnissen - all das war dabei. Aber es gab auch das Unglaubliche: Der deutsche bürokratische Apparat reagierte schnell, sogar sehr schnell. Und mein Sohn und ich haben das Aufnahmebescheid als Spätaussiedler erhalten!

Auch die Wohnrotverteilung ging überraschend schnell: Die Beraterin schlug Berlin vor, und ich sagte sofort zu. Sie glaubte, dass Berlin eine passende Stadt für uns wäre. Und das war es auch! Zunächst einmal war sie demokratisch und erkannte die Vielfalt in all ihren Erscheinungsformen an.

Wie kann ich meinen inneren Zustand aktuell beschreiben? Kurz gesagt: Nicht einfach. Genauer gesagt - ich verstehe bereits mehr oder weniger das U-Bahn-Netz, kenne die Bezeichnungen und Standorte der Einrichtungen, der erste Schock über Fragen und Antworten auf Deutsch ist überwunden, ich wache nachts etwas seltener auf und denke: "Gott, wo bin ich?" und mein Herz schmerzt immer noch für die Ukraine.

Was hilft? In erster Linie sind es die Menschen. Vertreter von den Selbstorganisationen der Deutschen Minderheiten AGDM, die mich in Zusammenarbeit mit dem Rat der Deutschen in der Ukraine in allen Phasen der Umsiedlung begleitet haben und rund um die Uhr erreichbar waren. Zunächst einmal trösteten sie mich und zerstreuten viele meiner Bedenken, ob meine Unterlagen den Anforderungen des Späthaussiedlerprogramms in vollem Ausmaß gerecht werden würden. Darüber hinaus erhielt ich sehr umfassende Erklärungen zum Spätsiedlerstatus und den damit verbundenen Möglichkeiten. Die AGDM half bei der Logistik der Reise durch Polen und Deutschland und schloss sich sogar einem Zug mit mehreren deutschen Familien aus der Ukraine an und half beim Erwerb und der Einrichtung der deutschen Handykarte. Nach der beschwerlichen Anreise hatten wir auch das große Glück, dass die in Polen lebende deutsche Minderheit eine Übernachtung in Warschau für uns organisiert hatte. Ohne diese Hilfe wäre der Schock in jeder Phase des Umsiedelns viel größer gewesen. Die Verbindung unserer Familie mit der AGDM geht weiter, und jetzt laden sie uns über ihre Facebook-Gruppe zu kulturellen Veranstaltungen ein, auch in Berlin.

Die Mitarbeiter und Nachbarn in der Unterkunft, in der wir jetzt leben, waren in dieser Phase eine wichtige Stütze für mich. Und auch das Ehrenamtsteam eines der ukrainischen Hilfszentren am Bahnhof, wo ich jedes Wochenende helfe. Aber vor allem meine Eltern, die in der Ukraine bleiben und mir jeden Tag erwähnen: "Das hast du gut gemacht. Wir glauben an dich."

Inna Tschenbai

FOTO: Familie Tschenbai auf dem Weg nach Friedland in Begleitung von Volontären der AGDM

8 Juni 2022
Autor: Büro des RDU
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