Offener Brief zum Gedenktag an die Opfer totalitärer und autoritärer Regime am 23. August und den Unabhängigkeitstag der Ukraine am 24. August. Mit diesem Offene Brief wendet sich die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen an die Kultusminister und Ministerinnen der Länder, an die Bundeszentrale und Landeszentralen für politische Bildung und die Lehrerverbände in Deutschland.
Sehr geehrte Damen und Herren Kultusminister und Ministerinnen,
vor einigen Wochen wurde bekannt, dass ANNE APPLEBAUM den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt. Das ist eine sehr gute Entscheidung. Wie gut, das können Sie leicht überprüfen: Fragen Sie einmal einen deutschen Abiturienten, wo nach dem Holocaust der zweitgrößte Massenmord in der europäischen Geschichte stattfand. Ich habe es versucht und festgestellt, dass die Befragten einen ratlos ansehen. Manche tippen auf Srebenica, andere nennen vielleicht die Hexenverfolgung oder den Thermidor. Diese Ratlosigkeit ist eigentlich ein Skandal, denn gefragt wird ja nach nichts Geringerem als nach der zweiten politischen europäischen Katastrophe schlechthin.
Nein, nicht die genannten grausamen Mordserien sind auf Platz zwei der europäischen Rangliste des Todes – sondern der Holodomor – zu Deutsch: der Hungertod, den JOSEF STALIN angeordnet hat und dem nach Schätzungen seriöser Historiker etwa 3,9 Millionen Ukrainer zum Opfer fielen – es gibt durchaus noch höhere Schätzungen. ANNE APPLEBAUM hat sich akribisch durch die Quellen gequält und genauestens zusammengetragen, was die Motive für diesen Massenmord waren, auf welchen Direktiven STALINS bzw. der KpdSU er beruhte, welche sinistren Kräfte ihn in Szene gesetzt und unterstützt haben. Sie erspart uns auch nicht die Schilderungen, wie das ist, wenn man buchstäblich keine Möglichkeit mehr weiß, seinen Kindern Essen zu beschaffen. Und was in den Stunden passiert, bevor ein hungernder Mensch die Schwelle zwischen Leben und Tod überschreitet. Etwa 3,9 Millionen Mal geschah das im Herzen Europas. Das alles kann man in ihrem bestens mit Quellenangaben versehenen Buch Roter Hunger nachlesen, im Original 2017, auf Deutsch 2019 in Berlin bei Siedler erschienen. Ein Buch, dem von Kritikern bescheinigt wird, dass es uns in einer verständlichen Sprache über diesen zweitgrößten Massenmord an einer europäischen Ethnie informiert.
Mich persönlich hat am meisten eine Passage bewegt, in der die Autorin über den damals um sich greifenden Kannibalismus schreibt. „Der sechsjährige Mischa lief von seinen Eltern weg, streunte durchs Dorf, bettelte und stahl. Als man ihn fragte, warum er sein Zuhause verlassen habe, sagte er, er habe Angst: ‚Vater will mich zerschneiden‘.“ (S. 325)
Wer sich mit dem Holodomor nie befasst hat, der versteht nur unzureichend, was für eine Ungeheuerlichkeit es ist, dass WLADIMIR PUTIN seit 2014 gegen die Ukraine Krieg führt. In Millionen von ukrainischen Familien sind die Erzählungen darüber noch wach, was ihre Vorfahren in den Jahren zwischen 1931 und 34 erleiden mussten. Dieses Leid hat sich ins kulturelle Gedächtnis des ukrainischen Volkes eingebrannt. Lange wurde darüber geschwiegen, musste geschwiegen werden. Im Zuge von Glasnost und Perestroika wurde 1991 die Ukraine jedoch selbständig. Und schon im ersten Jahr als souveräner Staat begannen immer mehr ukrainische Historiker, aber auch einfache Bürger, das zusammenzutragen, was sich 60 Jahre zuvor in ihrem Land ereignet hatte.
Es muss auf viele wie ein Schock, wie ein Déjà-vu gewirkt haben, als die gegenwärtigen Machthaber Russlands begannen, den Mann zu rehabilitieren, der Millionen ihrer Vorfahren ganz bewusst in den Hungertod getrieben hat. Aber damit nicht genug. PUTIN scheut sich nicht, politisch und militärisch da anzuknüpfen, wo STALIN seinerzeit durch andere Projekte abgelenkt wurde.
- Während STALIN Millionen ukrainischen Bauern nicht nur das Saatgetreide wegnahm, sondern buchstäblich sämtliche Essensvorräte entzog, so dass sie zum Hungertod verurteilt waren, zerstört PUTIN die Infrastruktur, speziell die Elektrizitätswerke, und setzt viele Ukrainer der Gefahr aus, im kommenden Winter erbärmlich zu frieren – wenn es schlimm kommt, werden etliche vom ihnen erfrieren. Jetzt schon gehen manche Beobachter davon aus, dass im Winter 2024/25 mit einer neuen Flüchtlingswelle zu rechnen ist.
- Wie STALIN gesteht auch PUTIN den Ukrainern keine eigene Nationalität zu. 1932 wurden viele der Einrichtungen in der Ukraine geschlossen, die sich der Pflege der nationalen Kultur gewidmet hatten. Sich zur ukrainischen Nationalität zu bekennen wurde lebensgefährlich. Nicht anders heute: wo PUTINS Truppen vorrücken, wird Russisch die Amtssprache und werden den Ukrainern russische Pässe angeboten. Kinder werden nach Russland verschleppt, um sie zu „russifizieren“. Wie unter Stalin werden alle möglichen Maßnahmen ergriffen, um in den östlichen Landesteilen wieder russische bzw. russischfreundliche Mehrheiten zu organisieren. In historisierendem Kauderwelsch beschwört der Diktator im Kreml die brüderliche Gemeinsamkeit zwischen Russen, Weißrussen und Ukrainern – die er allerdings gleichzeitig gründlich durch seine Raketen torpediert. Er verlangt, dass Abel Kain lieben soll. Wie STALIN gibt er sich der Illusion hin, die Ukrainer würden ihm letztlich die vielen Gefallenen im Krieg, die Zerstörung ihrer Städte, die massiven Angriffe auf ihre Kultur nachsehen – zugunsten der großen Gunst, eine dienende Funktion in Putins Neuer Schöner Russischer Welt einnehmen zu dürfen.
- Sowjetische Staatsmedien nannten STALINS Agenten in der Ukraine „sowjetische Patrioten“, die gegen „Kulaken“ (das war am Ende jeder Bauer, der vielleicht noch eine Kuh besaß), „Verräter“ und „Konterrevolutionäre“ – schließlich sogar gegen „Faschisten“ kämpften. (Als solcher wurde etwa der renommierte Historiker HRUSCHEWSKIJ, der die Zehnbändige Geschichte der Ukraine-Rus geschrieben hatte und sich politisch für eine demokratische Ukraine engagierte, diffamiert.) Für PUTIN ist heute SELENSKIJ ein Nazi, aber auch JEDER UKRAINISCHE SOLDAT, der gegen die russischen Invasoren kämpft.
- STALINS Schergen bedrohten jeden, der den Hungertod in Zusammenhang mit seiner Politik stellte, mit dem Tod. Das führte zu einer zeitweiligen Informationsblockade. Und auch heute werden die mit drakonischen Strafen belegt, die sich in Russland darum bemühen, an die Opfer des Stalinismus zu erinnern – das Verbot von Memorial ist nur eine der Maßnahmen. Auch strafbar ist, den Krieg gegen die Ukraine als Krieg zu bezeichnen. Was Wahrheit ist, bestimmt auch heute wieder die Macht.
- 1932 gelang es STALIN, der Weltöffentlichkeit gegenüber, das ganze Ausmaß des Hungerterrors zu vertuschen. Einzelnen Berichten, die es dennoch gab, wurde zu wenig Glauben geschenkt. Heute mobilisiert PUTIN über diverse Kanäle pausenlos Falschinformationen, die viele naive Nutzer letztlich doch für wahr oder halbwahr halten. Außerdem gelang es ihm, europäische Parteien vor allem vom rechten Rand des Parteienspektrums zu beeinflussen. Diese tun ihr Bestes, um die Versorgung der Ukraine mit Waffen in Frage zu stellen – wie das beim BSW der Fall ist. Dabei weiß jeder, was dann passieren würde: PUTIN würde seine klar artikulierten Kriegsziele vollständig durchsetzen. Die freie Ukraine gäbe es dann nicht mehr, ungezählte ihrer Bürger müssten, wie bei Stalin, um ihre Existenz bangen.
Sie sind als Kultusminister oder Kultusministerin in einer Position, die man nutzen kann, um das beschämende Nichtwissen über diese historischen Hintergründe des Ukrainekrieges vor allem unter Jugendlichen aufzuheben. Das ist nicht das, worüber Kultusminister miteinander reden, wenn sie sich heute begegnen. Es hat nichts mit Lehrermangel oder Medienkompetenzen zu tun und würde sich auch nicht automatisch dadurch ändern, wenn jeder deutsche Schüler ein Tablet in die Hand gedrückt bekäme. Es ist aber genau das, was in aufgeklärteren Zeiten immer als Kern von Bildung angesehen wurde: Jungen Menschen exakt die Kenntnisse zu vermitteln, die sie brauchen, um die Welt und ihre Nöte besser zu verstehen. Und SAHRA WAGENKNECHTS Vorschlag, die militärische Unterstützung der Ukraine zu beenden und sie wie 1931-34 wehrlos einem Diktator zu überlassen, als bodenlose Niedertracht zu erkennen.
Sie können sehr wohl veranlassen, dass Ihre Fortbildungseinrichtungen ANNE APPLEBAUMS Forschung den Lehrern vermittelt. Sie können das Thema in die Lehrpläne für Geschichte schreiben – das verursacht nicht einmal nennenswerte Kosten.
Freilich werden Sie das nur tun, wenn Sie genau so entsetzt darüber sind wie wir, dass das zweitgrößte Menschheitsverbrechen auf europäischem Boden den meisten Deutschen fast bis heute nicht bewusst war oder immer noch unbekannt ist. Am Ende kommt es bei wahrer demokratischer Bildung eben doch primär auf den richtig ausgewählten Inhalt an, den wir der nächsten Generation erschließen müssen, und erst dann auf die sicher auch notwendigen Kompetenzen.
Gottfried Böhme, Leipzig, Schriftsteller und ehedem Lehrer
P.S.: Die Landeszentralen für politische Bildung sind deshalb mit in den Verteiler aufgenommen, weil sie sich mit dem Siedler-Verlag einigen könnten, ob nicht Applebaums Buch in die Liste der Bücher aufgenommen werden könnte, die Schüler und Lehrer über das Portal kostenlos bestellen können.
Und die Lehrerverbände bitten wir, ihre Mitglieder zu ermuntern, auch dann, wenn die Minister solche Projekte vielleicht aus wahltaktischen Gründen auf die lange Bank schieben, selber aktiv zu werden und das Thema Holodomor beispielsweise anhand des Buches von Frau Applebaum auf den angemessenen wissenschaftlichen Stand zu bringen.
Dieser offene Brief wird von folgenden Personen und Initiativen unterstützt:
Stephan Bickhardt, Direktor Evangelische Akademie Sachsen
Uwe Schwabe, Vorstandsvorsitzender Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V.
Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk, Historiker Berlin
Wolf Biermann, Schriftsteller und Liedermacher
Pamela Biermann
Wolfgang Templin, Publizist/Autor Berlin
Marko Martin, Schriftsteller Berlin
Peter Wensierski, Autor und Journalist
Pfarrer Ralf Haska
Reinhard Bohse, Vorstandsmitglied EuropaMaidanLeipzig e.V.
Dietrich Wohlfarth, Vorstandsvorsitzender Ukrainefreunde Gotha e.V.
Severyn Flyunt, Vorstandvorsitzender Ukrainische Gemeinschaft Leipzig „Oberih“ e.V.
Pfarrer Dr. Hans Friedrich „Friedel“ Fischer, Vilnius / Litauèn
Basil Kerski, Direktor des Europäischen Solidarnosc Zentrums in Danzig
Dr. Rüdiger Frey, Geschäftsführer Bildungswerk Sachsen der Deutschen Gesellschaft e. V.
Dr. Maria Nooke, Die Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur
Gerd Poppe, ehem. Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung
Heidi Bohley, Vorstandsmitglied Zeit-Geschichte(n) e.V. Halle/Saale
Christian Dietrich, Präsident der Internationalen Assoziation ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus (InterAsso)
Günter Nooke, ehem. Afrikabeauftragter der Bundeskanzlerin, Berlin
Frank Ebert, Berliner Beauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Christoph Polster, Vorsitzender Aufarbeitung Cottbus e. V.
Rolf-Michael Turek, Vorstand Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V.
Prof. Dr. Axel Klausmeier, Direktor Stiftung Berliner Mauer
PD Dr. Anna Veronika Wendland, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Herder-Institut für historische Ostmitteleuropa Forschung
Hartmut Koschyk, Goldkronach, Parlamentarischer Staatssekretär a. D., Mitglied des Deutschen Bundestages von 1990 bis 2017
Dr. Anke Giesen, Mitglied im Vorstand von MEMORIAL Deutschland e.V.
Dr. Helge Heidemeyer, Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
Dr. Stephan Stach, Geschäftsführer Robert-Havemann-Gesellschaft Berlin
Dr. Andreas Umland, Analyst, Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS)
Tobias Hollitzer, Leiter Gedenkstätte Museum in der Runden Ecke Leipzig
Manfred Kruczek, FORUM zur kritischen Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte im Land Brandenburg e.V.
Andreas Schönfelder, Leiter Umweltbibliothek Großhennersdorf Freundeskreis der Ukraine Leipzig